Koffer und Taschen sind bereits gepackt, bevor ich überhaupt mit Sicherheit weiss, ob ich am Weltcup in der Lenzerheide starten darf. Zuerst steht noch ein Arzttermin wegen des lädierten Ellbogens an. Nachdem ich beim Bikefestival in Basel aufs Neue auf meinen lädierten Arm gestürzt bin, sah ich meine Chancen auf einen Start in der Lenzerheide bereits in Luft aufgelöst, doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt! Die Erleichterung ist gross, als ich grünes Licht erhalte. Obschon mir bewusst ist, dass ein erneuter Sturz wenn möglich verhindert werden sollte. Doch ich muss diese Gedanken während dem Rennenfahren ausblenden können, um genug schnell und technische Passagen auch sauber fahren zu können. Ich bin enorm froh, dass ich nach der verpassten Chance im 2019 (aufgrund einer anderen Verletzung ) nun doch noch an meinem ersten Heimweltcup teilnehmen darf! Gleich danach fahren wir also in die Lenzerheide, wo wir mit Regen empfangen werden. Wie das Wetter am Wochenende sein wird, ist noch ziemlich unsicher, doch zuerst sollte noch ein paar Tage die Sonne scheinen.
Gross ist die Vorfreude auf die erste Streckenbesichtigung aber auch etwas die Anspannung, wie ich die verschiedenen technischen Passagen fahren kann. Zwar kenne ich sie vom Zuschauen 2019, doch das ist auch bereits eine Weile her und dann war ich nur zu Fuss auf ihr unterwegs. Zum Glück nimmt mich Tina Züger für das erste Herantasten an die Strecke mit, sie kennt bereits (beinahe) jede Wurzel. Zuerst konzentrieren wir uns auf die „spezielleren“ technischen Passagen: Mercedes-Benz Cliff, Näf-Kante und den Mercedes-Benz Rock’n’Roll. Alle drei Schlüsselstellen stellen für mich – auch mit der Verletzung im Hinterkopf – zu Beginn eine mentale Herausforderung dar. Ich versuche aber auszublenden, dass ich nicht stürzen darf. Der Cliff kostet mich etwas Überwindung, da er ein blinder Sprung ist: Bei der Anfahrt sieht man die Landung nicht – man fliegt ins Unbekannte. Auf keinen Fall bremsen rede ich mir ein, sonst wird die Landung weniger elegant und sanft…. Doch bereits mit dem ersten Anlauf gelingt der Sprung (und die Landung ) gut.
Auch bei der Näf-Kante klappt es auf Anhieb. Viele Wurzeln und ein paar Kurven später schauen wir uns den Mercedes-Benz Rock’n’Roll genauer an. Hierbei handelt es sich um einen grossen Stein, mit einem schmalen Grat. Eine Herausforderung dabei ist aber nicht nur der schmale Grat, sondern dass wir FahrerInnen nicht genau sehen, wo wir hinfahren. Wir müssen also nicht nur die Linie genau treffen, sondern diese auch gut kennen. Beim ersten Versuch bin ich mir meiner Sache noch nicht so sicher, gerate ins Zögern und muss diesen abbrechen. Doch beim zweiten Anlauf klappt es, auch wenn es noch etwas holpert und ich mit dem Bike am Felsen anschlage. Der dritte Versuch gelingt deutlich flüssiger. Alle drei Schlüsselstellen sitzen somit bereits nach ein bis zwei Versuchen und ich fühle mich unterdessen sehr wohl auf der Strecke, sodass ich es mir auch zutraue, unter grosser Ermüdung sicher und sauber über den Stein zu fahren.
Schon die Streckenbesichtigung offenbart, dass der Rundkurs kaum Erholungsmöglichkeiten bietet. Es gibt zwar etliche Male kurze Abfahrten, doch diese sind einerseits zu kurz und andererseits technisch zu anspruchsvoll, um sich richtig erholen zu können. Die vielen Wurzeln sorgen ausserdem dafür, dass ständig Druck auf den Pedalen erforderlich ist. Zudem ist es wichtig, die Linien so zu wählen, dass einem die Wurzeln so wenig wie möglich ausbremsen und man viel Tempo mitnehmen kann.
Bei der Streckenbesichtigung mit dem Nationaltrainer Edi Telser und dem Techniktrainer Oscar Saiz schauen wir uns deshalb auch die vielen Wurzelpassagen genau an. Insbesondere bei den Wurzeln gibt es viele mögliche Linien, die gefahren werden können. Oscar fährt eine Linie, während wir Rad an Rad dieselbe Linie nachfahren. Sie geben uns viele Inputs und Tipps – vielen Dank dafür!
In der Lenzerheide gibt es auch mehrmals zwei abgegrenzte Linien, wobei es sich nicht um die typischen „A-Line“ und die „B-Line“ handelt. Beispielsweise existiert gleich nach der Näf-Kante ein Dualslalom. Bei diesen zwei Linienoptionen muss nicht von Grund auf unbedingt eine Linie schneller sein. Bei einer klassischen „A-Line“ und „B-Line“, ist die „A-Line“ normalerweise schwieriger zu fahren aber schneller, weil die einfachere “B-Line” extra verlängert wird, sodass sie deutlich langsamer wird. Später fahre ich mit einer kleineren Gruppe nochmals ein paar Runden, um weitere Linien auszuprobieren. Dabei beobachten und diskutieren wir natürlich auch die Linien von anderen Fahrerinnen.
Am Samstag geht es darum, die verschiedenen Linien nochmals zu üben und zu verinnerlichen. Unsere Trainingszeit ist bereits um 9.30h, weshalb die Strecke vom Tau noch etwas feucht ist. Für viele Fahrerinnen scheint es noch zu früh zu sein, denn die Strecke wirkt etwas verlassen. Später gibt es beim „Rock’n’Roll“ aber erneut eine grössere Ballung von Fahrerinnen, welche abermals versuchen, den Stein zu bewältigen. Da ich die verschiedenen Linien kenne, kann ich ohne Zögern an ihnen vorbeifahren. Die Strecke gefällt mir sehr und ich fühle mich richtig wohl auf ihr, die Vorfreude auf das Rennen ist dementsprechend gross 🤩!
Am Sonntag beim „Call Up“ stellt sich heraus, dass ich nicht nur weit hinten starten muss, sondern sogar als allerletzte Fahrerin (von 70; siehe erstes Bild) aufgerufen werde. Dies beunruhigt mich nicht weiter, bin ich mir ja ähnliche Startpositionen leider bereits von der ganzen Weltcup-Saison gewohnt… Obwohl ich unterdessen mehr UCI-Punkte habe, gilt es für mich also die Aufholjagd von zuallerhinterst zu starten, denn die UCI ändert gerne während der Saison die Spielregeln … Zuhinterst komme ich mir bei den vielen Zuschauern aber etwas ausgestellt und langsam vor . Es wird also Zeit, zu zeigen, dass die Startposition nicht so viel über die Stärke eines Athleten aussagt.
Um 12.20h wechseln die Lichter auf grün, die Aufholjagd beginnt. Ich versuche Lücken zu finden, um weiter nach vorne fahren zu können. Doch der lange Startaufstieg ist relativ schmal. Prompt verfängt sich eine Fahrerin in mir und stürzt. Wenig später kommen sich weiter vorne erneut Fahrerinnen zu nahe und es kommt zum Stau. Bis zum höchsten Punkt gelingt es mir deshalb kaum, andere Fahrerinnen zu überholen. In der ersten Abfahrt staut es erneut.
Mehrfach fahre ich nun die längere “B-Line”, um dem Stau und heiklen Szenen in der “A-Linie” wenigstens etwas zu entkommen. Der „Rock’n’Roll“ verzeiht beispielsweise fast keinen Fehler einer vorderen Fahrerin: Sobald sich das Bike auf dem Stein befindet, kann man kaum noch anhalten, ohne den kleinen Fels herunter zu stürzen. Das Zwischenergebnis nach der Startrunde ist ernüchternd: Ich bin nach wie vor noch eine der letzten Fahrerinnen. Immerhin ist das ganze Feld nun in die Länge gezogen, sodass Überholmanöver eher möglich wären. So möchte ich meine Aufholjagd in den folgenden Runden richtig lancieren, nachdem diese in der Startrunde arg stockte…
Bereits im Aufstieg der ersten richtigen Runde kann ich mehrere Athletinnen überholen. Immer wieder nutze ich Gelegenheiten, um an Fahrerinnen vor mir vorbeizufahren. So sammle ich, angefeuert von den Zuschauern, zahlreiche Fahrerinnen ein: u.a. in der zweiten Runde Haley Smith, in der dritten Lisi Osl, in der vierten Emily Batty.
Die Atmosphäre ist gigantisch: rund 9‘000 klatschende und zurufende Zuschauer stehen entlang der Strecke, Kuhglockengebimmel und Trommeln begleiten einen auf praktisch allen Abschnitten. In gefühlt fast jeder Ecke höre ich meinen Namen rufen, viele Verwandte und Bekannte haben den Weg an den Streckenrand gefunden ! Ich sauge die Stimmung richtig in mir auf.
Beflügelt und noch mehr motiviert durch die riesige Unterstützung am Streckenrand finde ich trotz wenig Erholungsmöglichkeiten bis am Schluss Energie, um jeden Anstieg richtig zu puschen. Irgendwie scheinen selbst die anstrengenden Wurzelteppiche so etwas flacher zu werden. In der letzten Runde schnappe ich mir noch Elisabeth Brandau und beende meinen ersten Heimweltcup auf dem 42. Rang !
Vielen Dank an alle Fans für eure wunderbare Unterstützung! Auch herzlichen Dank an all meine Sponsoren, welche einen Start am Weltcup überhaupt erst möglich machen.
Ich bin überglücklich, dass ich mit der Leistung und der unvergesslichen Atmosphäre am Weltcup in der Lenzerheide doch noch einen versöhnlichen Abschluss der Saison feiern konnte! Um Langezeitschäden aufgrund des Bänderrisses am Ellbogen zu vermeiden, muss ich nun leider eine Pause einlegen, was gleichzeitig das Ende meiner MTB-Saison bedeutet.
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