Die Rennstrecke der ÖKK Bike Revolution Chur mit Start und Ziel inmitten der Altstadt ist speziell, nicht nur von der städtischen Umgebung her. Geprägt wird die Strecke durch einen langen Anstieg aus der Stadt hinein in den Wald. Doch ein etwas kürzerer Anstieg zurück Richtung Altstadt, kurz vor der Start-Ziel-Durchfahrt, darf nicht unterschätzt werden, denn dieser hat es nochmals in sich: Wer das Rennen bereits am höchsten Punkt für entschieden glaubt, täuscht sich.
Da ein Grossteil der Strecke durch die malerische Altstadt von Chur führt, besteht der Untergrund teilweise auch aus Teer oder Pflastersteinen – für ein Mountainbike-Rennen eher ungewöhnlich.
Aufgrund der Rennen in den letzten Jahren weiss ich, dass mir diese Strecke mit dem langen Anstieg und der rasanten Abfahrt zurück in die Altstadt gut liegt. Mit dementsprechend viel Selbstvertrauen und Zuversicht stehe ich am Renntag auf und hoffe auf wichtige UCI-Punkte aus dem Hors-Class Rennen.
Im Zielbereich bin ich noch daran, die Kleider zu wechseln und die Kopfhörer zu versorgen, als ich beim Call-up bereits aufgerufen werde. Gestartet wird auf der Grabenstrasse mitten in Chur. Die zahlreichen ZuschauerInnen sorgen vor dem Start für grossartige Stimmung und Gänsehaut.
Nach dem Start kann ich mich gut positionieren und setze mich etwas später an die Spitze. Gemeinsam mit Steffi Häberlin führe ich das Feld Richtung Wald. Kurz bevor wir den Wald erreichen, wird es etwas hektischer und die Positionskämpfe für den anschliessenden Singletrail beginnen. Plötzlich bin ich weiter hinten als gewünscht und bei der Spitzkehre, als es in den Singletrail geht, kommt mir eine andere Fahrerin noch etwas in die Quere. Ich nutze einen kurzen Grasstreifen am Rande, um schnell ein paar Positionen gutzumachen. Danach lasse ich bis zum höchsten Punkt niemand mehr an mir vorbei und verteidige meine Position. Im Singletrail ist Fahrerin hinter Fahrerin aufgereiht. Bis oben entstehen dazwischen bereits kleine Lücken.
Beim «kurzen» Anstieg zurück Richtung Altstadt stelle ich den Anschluss zur Spitzengruppe wieder her. Niemand möchte im Wind fahren. So kommt es vor der Treppe vor der Abfahrt Richtung Start/Ziel fast zum Stillstand. Wir stehen mehr oder weniger quer vor der Treppe. Und man muss aufpassen, dass man nicht bei jemand anderem einhängt und die Treppe hinunterfällt! Sobald die erste Fahrerin die Abfahrt in Angriff nimmt, möchten alle gleichzeitig die Treppe hinunter rauschen. Es wird etwas eng.
In der Fläche resp. in der Stadt wird sehr taktisch gefahren und das Tempo ist tief. Bei Start/Ziel fahre ich wieder an eine vordere Position und behalte diese – mehr oder weniger – bis auf Weiteres.
In der zweiten Runde greift Steffi Häberlin im kürzeren Anstieg mit einem horrenden Tempo an. Die Spitzengruppe wird auseinandergezogen. Wie erwartet fällt das Tempo danach aber wieder zusammen. Damit nicht alle abgehängten Fahrerinnen wieder aufschliessen können, sorge ich in der dritten Runde für ein höheres Tempo. Ich führe die ganze Runde.
Als ich anfangs vierter Runde aber die Führung abgeben möchte und niemand übernehmen will, fällt das Tempo wieder zusammen.
Eingangs Wald attackiert Pauline Ferrand-Prévot, die amtierende Weltmeisterin aus Frankreich, wodurch die 6-köpfige Spitzengruppe definitiv gesprengt wird. Alessandra Keller folgt ihr. Ich gehe die Tempoverschärfung so halb mit, achte aber darauf, mein eigenes Tempo zu fahren und nicht zu stark zu forcieren.
Kurz darauf sehe ich, dass auch Alessandra der Französin nicht mehr folgen kann. Auf Rang drei liegend, konzentriere ich mich auf mein Rennen, habe Alessandra aber häufig im Blick.
In der zweitletzten Runde kann ich noch etwas zulegen und komme ihr deutlich näher. Der Druck auf Alessandra steigt. Sie blickt zurück.
Angefeuert vom Team-Staff, während Nicolas Fischer wartet, um mir hinterherzufahren und mich fürs TV zu filmen . © Jan Cadosch
Als ich mich auf die letzte Runde aufmache, versuche ich mich in der Fläche möglichst klein zu machen, mit Zug auf den Pedalen zu fahren, aber mich gleichzeitig zu erholen – tönt nach «Mission impossible», hat aber trotzdem funktioniert. 😉
Alessandra ruht sich bei einer überrundeten Fahrerin kurzzeitig etwas im Windschatten aus, ich ziehe stattdessen gleich an dieser Fahrerin vorbei, denn mein Ziel liegt vor mir und ich habe Morgenluft gewittert.
Hier findest du das ganze Rennen zum Nachschauen. Wer einen überraschten Rob Warner und erstaunte Annika Langvad hören möchte, kann es auf Englisch schauen 😉: Gleiche Szene ab 1:14:30.
Im Teer-Anstieg ausgangs Altstadt gelingt es mir, die Lücke zur Schweizermeisterin zu schliessen, und ich überhole sie sogleich. Ich versuche am Schatten zu erkennen, ob sie mein Hinterrad halten kann oder nicht. Dumm nur, steht die Sonne genau so, dass der Schatten fast nur auf der Seite ist. Zurückblicken möchte ich nicht, habe aber das Gefühl, dass sie mir dicht auf den Fersen ist. Bei der Spitzkehre im Wald, als ich in den Singletrail einbiege, sehe ich, dass ich eine kleine Lücke herausfahren konnte. Ich forciere das Tempo aber nicht mehr, der Anstieg ist noch lange und es wartet noch der letzte Gegenanstieg auf uns.
In der Abfahrt kann Alessandra die Lücke wieder schliessen. Nun konzentriere ich mich ganz auf den letzten Gegenanstieg. In der Fläche trinke ich einen letzten Schluck und gehe gleich zu Beginn des Anstiegs in den Wiegetritt. Alessandra attackiert gleichzeitig, ist bei ihrem Angriff zu Beginn aber etwas überzeugter und beschleunigt schneller. Ich folge ihr. Wie lange der «kurze» Anstieg doch sein kann! Komplett am Anschlag sprinten wir beide hoch. Sieht wohl eher nach einem trägen Gehampel als nach sprinten aus. Gegen oben kann ich ein paar Zentimeter gutmachen, begehe aber – im Nachhinein betrachtet – einen taktischen Fehler. Denn ich befinde mich rechts von Alessandra, was bei einer Rechtskurve relativ ungünstig ist. Beim Einbiegen zur Treppe schneidet sie mir so – durchaus regelkonform – den Weg ab. Ich muss bremsen, damit ich nicht mitgerissen werde. Eine Lücke geht auf. Doch ich gebe mich noch nicht geschlagen! Wir sausen zwischen den Häusern der Altstadt hinunter Richtung Ziel.
Uns trennen nur wenige Meter. Ich mache mich klein und drücke gleichzeitig voll auf die Pedale – nutze möglichst jeden Meter in der Breite, um viel Schwung mitzunehmen. Bevor wir in die letzte Kurve gehen, habe ich den Anschluss geschafft. Ich versuche das fast Unmögliche…
Wir beschleunigen beide direkt aus der Kurve, doch die Zielgerade ist zu kurz und ich komme nicht mehr an Alessandra vorbei… So schlägt mich Alessandra um vier Zehntelsekunden im Schlusssprint.
Die Freude über den 3. Rang bei einem HC Rennen ist gross, auch wenn ein Auge über den «verlorenen» 2. Rang weint. Doch endlich ging bei einem Rennen für einmal viel auf. So stehe ich neben der Weltmeisterin und Schweizermeisterin auf dem Podest, meinem ersten in der HC Kategorie.
Ich konnte zudem viel Lernen, eine Menge Positives und wichtige UCI-Punkte mitnehmen. Das Resultat, sowie die Art und Weise, wie ich gefahren bin, geben mir für die nächsten Rennen viel Zuversicht.
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